Man sieht sie immer wieder: Sportler, die sich vor dem eigentlichen Training mit bunten Minibändern, speziellen Bewegungsfolgen oder kleinen Widerstandsübungen vorbereiten. Der Begriff „Aktivierungsübungen“ ist längst fester Bestandteil vieler Trainingspläne. Doch was steckt eigentlich hinter dieser Praxis? Sind solche Übungen tatsächlich sinnvoll – oder nur ein weiterer Fitness-Hype?
Was bedeutet eigentlich “Muskelaktivierung”?
Bevor wir tiefer eintauchen, lohnt sich ein kurzer Blick in die Grundlagen. Muskelaktivierung beschreibt den Prozess, bei dem unser Nervensystem elektrische Impulse an die Muskeln sendet, die daraufhin kontrahieren. Dieser Vorgang geschieht in gesunden Körpern automatisch und sehr effizient. Wenn wir zum Beispiel aufstehen, gehen oder eine Hantel heben, aktivieren sich unsere Muskeln genau im richtigen Moment – ohne dass wir darüber nachdenken müssen.
Viele Menschen glauben, dass diese Aktivierung vor dem Training „geboostet“ werden muss, damit die Muskulatur besser auf die Belastung vorbereitet ist. Doch bei gesunden Sportlern, die keine neurologischen Einschränkungen oder Verletzungen haben, funktioniert dieses System bereits sehr zuverlässig. Zusätzliche sanfte Übungen verändern daran meist nur wenig.
Der häufige Irrtum: Aktivierung ist nicht gleich Leistungssteigerung
Oft wird Aktivierung fälschlicherweise mit dem sogenannten „Post-Activation Potentiation“ (PAP) verwechselt. Bei PAP geht es darum, durch eine gezielte, intensive Vorbelastung kurzfristig eine Leistungssteigerung zu erzielen – zum Beispiel bei Sprintern, die vor dem Wettkampf ein paar explosive Kniebeugen machen. Diese Art der Leistungssteigerung basiert jedoch auf anderen Mechanismen und hat wenig mit den beliebten leichten Aktivierungsübungen mit Minibändern oder Therabändern zu tun.
Leichte Übungen mit geringer Intensität sind aus wissenschaftlicher Sicht nur begrenzt wirksam, wenn es darum geht, maximale Kraft, schnelle Muskelreaktionen oder eine „bessere“ Ansteuerung für das folgende Training zu erzeugen. Das bedeutet aber nicht, dass sie grundsätzlich nutzlos sind – es kommt vielmehr darauf an, wer sie macht und in welchem Kontext.
Reicht Aufwärmen nicht aus?
Für gesunde Sportler ist ein gut geplantes Aufwärmen meist die bessere Wahl, um den Körper auf kommende Belastungen vorzubereiten. Dazu gehören z. B.:
- leichtes Ausdauertraining (z. B. lockeres Joggen, Radfahren)
- dynamische Bewegungsübungen
- koordinative Bewegungen
- sportartspezifische Elemente wie Sprünge, Richtungswechsel oder Technikübungen
Solche Warm-up-Programme sorgen dafür, dass Kreislauf, Gelenke, Sehnen, Bänder und auch die Muskulatur optimal auf die bevorstehende Belastung vorbereitet sind. Die vielbeschworene „Aktivierung“ der Gesäßmuskeln, der Rotatorenmanschette oder anderer Muskelgruppen passiert dabei ganz automatisch, ohne dass isolierte Spezialübungen nötig wären.
Wann Aktivierungsübungen wirklich sinnvoll sind
Die große Stärke von Aktivierungsübungen zeigt sich besonders in der Physiotherapie oder im Reha-Training. Hier sind die Voraussetzungen ganz andere: Nach Verletzungen, Operationen oder längeren Trainingspausen haben viele Patienten Schwierigkeiten, bestimmte Bewegungen wieder gezielt auszuführen (wie z. B. Das Heben des Armes über den Kopf). In solchen Fällen helfen Aktivierungsübungen dabei, diese Ansteuerung vorsichtig und kontrolliert wieder zu trainieren.
Ein Beispiel aus der Praxis:
Nach einer Knie-Operation kann es sein, dass der Oberschenkelmuskel (Quadrizeps) nur noch schwach arbeitet, weil seine Ansteuerung über das Nervensystem nicht physiologisch erfolgt (meist ein Schutzmechanismus, der den Körper vor zu früher Belastung schützen soll, sich aber manchmal von allein nicht wieder zurückstellt). Hier können einfache Aktivierungsübungen helfen, das Zusammenspiel zwischen Nervensystem und Muskulatur sanft wiederherzustellen.
Auch bei Rückenpatienten oder nach Schulterverletzungen können gezielte Aktivierungsübungen mit leichten Widerständen, elastischen Bändern oder dem eigenen Körpergewicht helfen, Muskeln wieder bewusst wahrzunehmen und stabilisierend einzusetzen. Damit dies schlussendlich vom Nervensystem wieder autonom gesteuert werden kann.
Fazit: Nicht jede Modeerscheinung ist Unsinn – aber auch kein Allheilmittel
Aktivierungsübungen sind kein Hexenwerk – und auch kein Wundermittel. Für den gesunden Hobbysportler oder Leistungssportler reicht meist ein gut strukturiertes Warm-up aus, um die Muskulatur optimal auf Belastungen vorzubereiten. In der Rehabilitation dagegen sind solche Übungen ein wertvolles Werkzeug, um Bewegungsabläufe neu zu erlernen und die Muskulatur gezielt wieder aufzubauen.
Wie so oft im Training gilt: Der Kontext entscheidet. Wer sich unsicher ist, sollte sich am besten von einem erfahrenen Trainer oder Physiotherapeuten beraten lassen, wann Aktivierungsübungen sinnvoll sind – und wann man sich die Zeit lieber für effektiveres Training sparen kann.
Quellen:
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